Literatur

TROMMELZEITREISE

Haiv ist ein Mann mittleren Alters. Sein eigentlicher Name lautet Hadrian Ivano. Er lebt als einziger Arbeiter in einem Weinberg. Seine Aufgabe ist schwer und mühsam, denn in seiner Zeit gibt es nur wenig hilfreiches Werkzeug. Eines Abends schleppt er sich müde und abgearbeitet zu einem großen Baum ganz in der Nähe um ein wenig Ruhe zu finden. Er breitet seine löchrige Jacke zwischen den dicken, hervorstehenden Wurzeln aus, setzt sich darauf und lehnt seinen Rücken an die durchfurchte Rinde. Die untergehende Sonne, so scheint ihm, will ihm noch etwas Wärme geben. Sein von der Sonne gebräuntes Gesicht bekommt einen rosaroten Schein.

Versonnen greift er in seinen Beutel und zieht eine kleine Trommel hervor. Langsam und inbrünstig beginnt er mit tastenden Fingern einen Rhythmus zu entwerfen. Einen Rhythmus der tief aus seinem Inneren aufsteigt.


Ganz in sich versunken merkt er erst nach längerem Spiel, dass seine von der Arbeit rissigen Finger bluten. Das Leder der Trommel hat sich rot gefärbt. Ein rundes Bild mit rhythmischen Pinselstrichen.

Aus seiner Trance gerissen hört Haiv auf zu spielen. Traurig blickt er auf seine geschundenen Hände. Ein kleiner roter Blutstropfen fällt neben ihm auf ein grünes Blatt, blitzt auf wie ein Rubin um dann grau im Gras zu zerrinnen. Er seufzt tief und flüstert leise vor sich hin:
„Ach – wie gern wäre ich doch ein reicher, mächtiger Mann. Dann hätte ich keine Sorgen mehr, hätte ein gutes Leben und könnte meine Familie besser ernähren.“


Er lehnt sich zurück, schließt die Augen und hört seinem Atem zu. Gedanken kommen und gehen – er fühlt sich zu müde um sie festzuhalten. Langsam sinkt sein Kopf auf seine Brust. Die Sonne verschwindet am Horizont. Kühle Abendluft steigt aus den Wiesen.


Da ertönt die Trommel plötzlich wieder. Eine Stimme fragt ihn:
„Wohin willst du um ein besseres Leben zu haben?“
„Wohin ich will?“ fragt er erstaunt.
„Ich habe noch nie wirklich darüber nachgedacht.“ Verwundert lauscht er in sich hinein und dann antwortet er:
„Auf jeden Fall weg von hier. Sagen wir mal irgendwohin in die Zukunft, in ein reiches Land. So ungefähr zweihundert Jahre später“.


Da sieht er plötzlich sich selbst in prächtigen Gewändern, einer weiß gepuderten Perücke mit langem lockigem Haar und Schnallenschuhen vor einem goldumrandeten Spiegel stehen. Er weiß sogar seinen Namen: Hadrien von Ivon, abgekürzt Haiv. Ein Kammerdiener staubt ihm mit einem Federbesen den Puder von den Schultern – es riecht nach einer Mischung aus Rosenöl, Minze, Salbei und Schweiß. Er muss kräftig niesen weil ihn der Staub in der Nase kitzelt.


Als Landverwalter und Steuereintreiber des Königs hat er jetzt Alles. Gleich wird er ausreiten, später ein üppiges Mittagsmahl einnehmen und danach ein Stündchen ruhen.
Am Nachmittag wird er neue Aufgaben an seine Dienstboten und Angestellten verteilen. Auch seine Kinder werden von ihnen betreut, erzogen und unterrichtet.
Da klatscht er in die Hände und ruft:
„Ich hab´ doch ein wirklich gutes Leben! Ich bin einer der Besten unter der Sonne!“


Eines Tages klopft es an der großen Tür. Ein Diener eilt herbei und lässt einen Boten des Königs herein, der eine versiegelte Botschaft übergibt. Haiv öffnet den Brief, liest und erblasst: Der Staat ist bankrott! Die Generalstände sollten ihre Privilegien abgeben? Das darf doch nicht wahr sein!


Es sieht in der Tat nicht sonderlich gut aus. Der erste und der zweite Stand, dem er, Haiv, angehört, sollen auf ihre Vorteile verzichten. In einem halben Jahr werden sie zusammen kommen und einen Beschluss unterzeichnen. Was soll das bedeuten? Die Vorteile aufgeben hieße: Diener entlassen, Land, Pferde und Wagen verkaufen, das große Haus aufgeben und vieles andere mehr.


Niemals! Haiv fasst den Entschluss, seine Privilegien zu verteidigen, komme was da wolle. Er würde gegen jeden kämpfen, der sie ihm nehmen wollte. Es war doch seit jeher sein angestammtes Recht, das Leben nach seinem Willen zu gestalten – über so viele Generationen!


Doch seit dem Tag, an dem der Brief des Königs kam, kann er nicht mehr ruhig schlafen. Angstträume quälen ihn. Immer wieder sieht er sich von einer großen Menschenmenge bedroht, die ihn aus seinem Bett werfen will und ihn mit furchterregenden Waffen und Prügeln bedrängt. Er erwacht durch seinen eigenen Schrei, schweißgebadet mit starkem Herzklopfen. Stets beruhigt er sich: Gott sei Dank es, war nur ein Traum …


Aber auch tagsüber findet er kaum noch Ruhe. Immer mehr Menschen kommen zu ihm und bitten ihn, dass er sich beim König für sie einsetze. Keine Steuern wollen sie zahlen! Sie behaupten sie könnten es nicht mehr!
So sehr er es auch zu verdrängen sucht, entgeht ihm nicht, wie die Zahl der bettelnden Bevölkerung fast täglich steigt. Immer, wenn er hoch zu Ross durch die Stadt reitet, bedrängen sie sein Pferd – so verzweifelt und fordernd betteln sie um ein paar lumpige Münzen. Ist der Staat wirklich am Ende? Kann der König sein Volk tatsächlich nicht mehr ernähren? Ist das kein Traum sondern die bittere Wirklichkeit?


Von vielen schlaflosen Nächten und Alpträumen völlig erschöpft, reitet Haiv eines Tages zu seinem Lieblingsplatz auf dem Landbesitz. Es ist ein alter Baum auf einem Hügel von welchem aus man das weite Land überschauen kann. Er steigt vom Pferd und setzt sich auf die hervorstehenden Wurzeln unter den Baum. Nicht achtend seiner kostbaren Kleidung lehnt er sich müde an den Stamm. Und wie er so träumend in die Ferne schaut, fallen ihm die Augen zu.


Da hört er Trommelschläge. Zuerst leise und weit weg. Langsam kommen sie näher. Er kennt diesen Klang. Bald darauf fragt ihn eine Stimme:
„Wie geht es dir in dem reichen Land, in das du dich hineingewünscht hast? Bist du jetzt zufrieden?“
„Zufrieden?“ schreit Haiv aufgebracht.
„Ich bin fast krank vor Angst, meinen Besitz zu verlieren! Kein Auge mache ich mehr zu! Alpträume schlimmster Art suchen mich nachts heim und ich fürchte mich vor dem Treffen mit dem König in einigen Monaten!“


„Worin siehst du den Grund für deine Furcht um deinen Wohlstand?“, fragt die Stimme.
„Eine gute Frage!“ Haiv überlegt.
„Ich glaube, ich habe meinen Reichtum zu sehr nach außen gewendet. Ich protze stark und führe für alle sichtbar ein prunkvolles Leben! Das provoziert die Armen. Nun möchten sie mich zu ihrem Fürsprecher beim König machen.“


Die Stimme fragt: „Was willst du jetzt tun?“
„Ich will weg aus dieser Zeit! Ich fürchte, ich werde nicht überleben, wenn ich nicht ganz schnell von hier verschwinde …“
„Wohin willst du nun, um ein besseres Leben zu haben?“ fragt die Stimme
„Noch weiter in die Zukunft! Irgendwann muss es doch einmal besser werden. Sagen wir mal zweihundertneunundzwanzig Jahre später von heute aus gerechnet! Und ich will noch reicher sein. Und schlauer! Ich werde meinen Reichtum gut verstecken, damit die Armen, sprich das dumme Volk, ihn mir nicht neiden, geschweige denn wegnehmen können!“


Kaum hat er dies ausgesprochen, findet er sich plötzlich in einem der modernsten Flughäfen der heutigen Welt wieder. Sein Name, so viel weiß er, ist Harley Ivor, abgekürzt Haiv.


Er trägt ein maßgeschneidertes hellgraues Jackett, ein weißes matt seidenes Hemd mit offenem Kragen, blaue verwaschene Jeans und sportlich schicke Turnschuhe. Die halblangen Haare hat er leicht mit Haar-Gel nach hinten gekämmt. Seine rechte Hand ruht lässig am Henkel eines Köfferchens auf kleinen Rollen. So steht er in einer Schlange und wartet auf die Körperkontrolle am Flughafen.


In der Business Class geht alles schneller, bequemer, der Service ist besser und die Stewardessen nehmen sich mehr Zeit, Sonderwünsche zu erfüllen. Den kleinen Koffer kann Haiv im Handgepäck mitnehmen. Niemand weiß, dass er voller Wertpapiere ist. Da das Handgepäck nur durchleuchtet wird, wird er ihn nicht öffnen müssen und niemand wird ihn nach dem Inhalt fragen. Sie suchen sowieso nur nach potentiellen Waffen – er fühlt sich zu intelligent für so einen Kram. In sich selbst verliebt, findet er sich großartig und denkt:
„Ich bin einer der Besten auf der Welt. Mein Elite-Studium an der teuren privaten Universität hat sich doch sehr gelohnt. Geld ist eben eine friedliche Waffe!“ Er fühlt sich dem Rest der Welt weit überlegen und grinst eitel in sich hinein.


Sein Geschäft ist, die immensen Vermögen seiner Kunden steuerfrei im Ausland anzulegen. Dafür reist er um die Welt. Er fühlt sich dabei frei und sicher. Niemand merkt, dass er gerade arbeitet – noch nicht einmal er selbst. Er hat es geschafft. Nun kann er sich ganz seinen privaten Vorlieben widmen, ständig Neues ausprobieren, die schönsten Orte besuchen, in den Luxussuiten der besten Hotels absteigen und exquisites Essen genießen. Obwohl er enorme Geldsummen ausgibt, wächst sein privates Vermögen ständig.


„Genau das wollte ich eigentlich früher schon! Ich wusste nur nicht, dass man so leben kann. Jetzt bedroht mich niemand mehr und ich kann machen was ich will!“
Als er im Flugzeug sitzt, lehnt er sich in seinem weichen Sitz zurück. Es entfährt ihm ein Seufzer tiefer Erleichterung. Wie sehr hat er sich doch solche Momente der Freiheit immer gewünscht!


So lebt er etliche Jahre lang unbeschwert. Eines schönen Tages jedoch bemerkt er, dass er kaum noch die Treppe zu seinem Hotelzimmer im hochkommt. Ihm wird schwindlig und er muss sich setzen. Sein Herz rast und ihm wird schwarz vor Augen. Kaum realisiert er, dass Hotelangestellte den Notarzt rufen – dann versinkt alles um ihn herum.


Als er wieder aufwacht, findet er sich in einem Krankenhaus wieder. Er blickt an sich hinunter. Rechts und links hängen Schläuche aus Plastik an seinen Armen, mit kleinen Nadeln in die Venen gestochen, verbunden mit Flaschen die an Ständern neben seinem Bett hängen.


„Was ist das? Wie bin ich hierhergekommen? Was ist mit mir passiert?“
Neben ihm liegt ein alter Mann. Sein Atem pfeift und er erzählt Haiv, er müsse bald sterben.
„Sterben?“ fragt Haiv fassungslos.
„Ja – wissen Sie nicht, dass wir beide hier im Quarantänezimmer des Krankenhauses liegen? Sie haben ein sehr ansteckendes Virus, gegen das es kein Medikament gibt. Deswegen hat man Sie zu mir gelegt. Bei mir ist eh schon alles egal …“


Haiv ist entsetzt. Ungläubig stammelt er:
“Virus? Sterben? Jetzt schon? Ich habe doch gerade erst begonnen richtig zu leben, mein Traumleben! Nein, niemals akzeptiere ich es, jetzt zu sterben. Ich will weg von hier. Auf der Stelle!“


Er klingelt nach dem Arzt. Doch niemand kommt. Erst am nächsten Morgen wird die Tür geöffnet und eine Person in Schutzkleidung betritt den Raum. Sie bringt Essen, wechselt die Behälter an den Ständern und verschwindet gleich wieder – wortlos.
Nach langem Warten kommt endlich der Arzt herein. Er trägt ebenfalls Schutzkleidung.


„Sie haben eine Viruserkrankung gegen die wir im Moment machtlos sind. Es gibt noch keine Heilmittel gegen diese Art Viren. Deswegen müssen Sie auf der Quarantänestation bleiben, da die Gefahr besteht, dass Sie alle anderen anstecken!“
„Und der alte Mann neben mir?“ fragt Haiv.
„Er hat dieses Virus schon seit fünf Monaten. Lange wird er es nicht mehr machen“ antwortet der Arzt.
„Ich bezahle sofort jeden Preis wenn Sie mich behandeln!“ Aufgeregt versucht Haiv den Arzt für sich zu interessieren – ja ihn vielleicht mit Geld zu bestechen.
„Ich sagte Ihnen doch gerade, dass wir noch keine wirksamen Mittel gegen diese Erkrankung haben. Tut mir sehr leid für Sie.“ Der Arzt dreht sich um und geht.


Haiv versucht, sich aufzurichten und aus dem Bett zu steigen. Da fühlt er einen stechenden Schmerz in der Brust und sinkt in die Kissen zurück. Erschöpft dämmert er vor sich hin. Wie lange soll er dieser Zustand aushalten? Er fällt in einen tiefen Schlaf.


Plötzlich hört er die Trommel. Von weit weg und ganz leise. Der Klang kommt näher, wird lauter. Er merkt, dass es ihn schüttelt. Er weint.
Bald vernimmt er die Stimme, die ihm inzwischen so vertraut ist. Sie fragt:
„Wie geht es dir als unendlich reicher Mann, der seinen Reichtum gut verbirgt?“

„Schlecht. Ich bin todkrank! Aller Reichtum nützt mir nichts gegen diesen unbesiegbaren Feind, das Virus. Es ist der stärkste Gegner den ich je hatte“, antwortet Haiv. Und wütend fährt er fort:
„Sag mal – ist hier auf der Welt letztendlich alles nur dem Tod geweiht? Gibt es nicht etwas dauerhaft Gutes?“


„Worin siehst du denn jetzt den Grund, dass du so leiden musst? “ stellt die Stimme die Gegenfrage. Haiv denkt nach.
„Ich glaube, ich habe mich zu sehr auf die Macht und Stärke des Reichtums verlassen, statt meine eigene Stärke zu entwickeln und einzusetzen.“
„Was hast du weiter vor und wohin führt dein Weg?“ fragt die Stimme.
„Auf keinen Fall bleibe ich hier! Mein Zustand ist schrecklich! Ich will weg, sofort! Stark und mächtig will ich sein, sodass keiner mehr über mir steht! Am liebsten wäre ich selbst so ein Virus, dem kein Mensch gewachsen ist!“


Da sieht er plötzlich sich selbst nicht mehr. Bestürzt beginnt er sich zu suchen. Aber es ist alles weg, was ihn ausmachte. Gerade hatte er noch Arme und Beine, konnte seine Augen bewegen, sehen und hören! Nun ist davon nichts mehr vorhanden. Er wundert sich darüber, dass er trotzdem noch ein Bewusstsein von sich hat. Also muss es ihn ja geben.
„Wer bin ich nun? Und wo bin ich?“ fragt er, in seinem neuen Dasein herumirrend.


Nach längeren Versuchen sich zu orientieren, nimmt er schließlich in einem Wassertropfen auf dem Nachttisch am Bett des Krankenhauszimmers eine winzig kleine Existenz wahr. Er beobachtet, wie jemand den Tisch mit einem feuchten Tuch abwischt und dann mit einem Handtuch trockenreibt. Die Gestalt legt das Handtuch über den Arm und geht. Da klingelt ihr Telefon, sie wird dringend zu einem Patienten gerufen und, bereits auf ihre neue Aufgabe konzentriert, legt sie das Handtuch achtlos in der Stationsküche ab und eilt davon. Ein paar Minuten später kommt der Arzt herein und wäscht sich gründlich die Hände. Er greift zum abgelegten Handtuch um sie zu trocknen.


Jetzt! Haiv fühlt einen unwiderstehlichen Drang: Diese winzige Existenz, die mit dem Wassertropfen vom Handtuch aufgesaugt wurde, muss in den Organismus des Arztes eindringen! Er wundert sich, dass er dabei so etwas wie Lust empfindet. Offenbar ist er eine Intelligenz, die zwar nicht sichtbar lebt, doch instinktiv und stark fühlen kann und sich unbedingt vermehren will.

Seine Aufgabe, so scheint es Haiv nun, ist es, kleine organische Existenzen in einen lebendigen Organismus zu schleusen. Er braucht viele gute Wirtszellen um sein Leben zu sichern. Die größte Herausforderung besteht darin, Zellen eines anderen Lebewesens in ihren Funktionen zu verstehen und zu überlisten. Nur so kann er in sie eindringen und selbst zum Teil des Lebens werden. Ständig muss er neue Wege finden um dies zu schaffen. Anstrengend ist das und unglaublich anspruchsvoll!


So arbeitet er sich Schritt für Schritt in den Organismus des Arztes hinein, Zelle für Zelle erbeutet er zu seinem Vorteil. Der Arzt merkt von all dem nichts, denn er lebt ganz für seinen Beruf. Tag wie Nacht setzt er sich für seine Patienten ein. Er nimmt nicht wahr, dass seine Kräfte langsam schwinden. Durch die andauernde große Belastung ist sein Immunsystem im Augenblick so geschwächt, dass Haiv, das Virus, bessere Chancen hat, neue Zellen zu besetzen. Es breitet sich aus – immer schneller und aggressiver.


„Wunderbar!“ denkt Haiv.
„Ich bin jetzt eine bedeutende Krankheit. Nun lebe ich nach den wirtschaftlichen Kriterien meiner Universitäts-Lehrer richtig und sinnvoll, indem ich eigene Ressourcen spare, weil ich mein Leben mit Hilfe fremder Energien bestreite. Auf diese Weise entwickle ich meine Intelligenz und damit mich selbst immer weiter!“ lobt er sich stolz.
Er ist mit sich, seiner Leistung und den ständigen Herausforderungen seines Lebens absolut zufrieden.


Eines schönen Tages jedoch ist der Arzt so geschwächt, dass er im Gang des Krankenhauses zusammenbricht. Er verliert das Bewusstsein. Seine Kollegen bringen ihn auf die Intensivstation und versorgen ihn medizinisch. Nach längeren Untersuchungen stellt sich heraus, dass er an der unheilbaren Viruserkrankung leidet und damit keine große Chance auf Überleben hat. Der Arzt erlangt das Bewusstsein nicht wieder, obwohl sich seine Kollegen sehr einsetzen, ihn ins Leben zurück zu holen.


Da erreicht Haiv eine besondere Schwingung in seiner Sphäre. Rhythmisch dringt sie in seine unsichtbare, hochintelligente Struktur ein. Haiv kennt diese Schwingung. Es ist der Rhythmus der Trommel. Ihr Klang wird immer stärker und dominiert schließlich sein gesamtes Sein.

Eine bekannte Stimme spricht zu ihm:
„Heute wirst du sterben. Es dauert nicht mehr lang.“
„Schon wieder sterben? Nein! Ich will doch leben! Und zwar gut!“ Die Stimme antwortet:
„Du willst dadurch leben dass du dir Leben von anderen nimmst? Das geht nur so lange, wie der Andere da ist. Somit ist auch dein Leben endlich, sprich: Dein Leben endet heute mit dem Tod des Arztes, dessen Tod auch dein Tod sein wird. Magst du dich darüber beklagen – es war dein Wille! Du hast nur noch wenige Stunden Zeit für einen nächsten Schritt. Sag mir was du dir nun wünschst!“


„Ein paar Stunden! Lächerlich! Das ist ja fast nichts! Gibt es denn gar kein Entrinnen für mich?“ klagt Haiv.
Verzweifelt erkennt er, dass er sich selbst betrogen hat mit dem Wunsch, als Virus unbesiegbar und mächtig zu sein. Wütend wird ihm klar, dass er wieder einmal der Unterlegene ist. Diesmal ist er dem Lebensende so nah wie nie zuvor.


„Ich will weg von hier. Auf der Stelle!“ schreit er, von panischer Angst erfasst.
Doch dann wird er ganz ruhig. Er weiß, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt. Es geht ums nackte Überleben! Es muss ein genialer Wunsch her, um sein Leben zu retten. Großartig, überlegen und tollkühn will er seine gesamte, inzwischen umfassend ausgebildete Intelligenz dafür einsetzen.

Schließlich sagt er: „Ich wünsche mir, selbst der Tod sein, der allen Menschen das Leben kostet!“
„Oh!“ antwortet die Stimme.
„Hast du dir das wirklich gut überlegt?“
„Wieso fragst du das? Erkenne doch das Geniale meiner Entscheidung! Wenn ich selbst der Tod bin, kann ja der Tod mich nicht mehr holen!“


„Du hast nichts verstanden!“ wendet die Stimme ein.
„Der Tod kommt nur einmal und ist allen sicher. Er ist für alle Lebewesen gleichermaßen da. Er ist nichts anderes als die Auflösung aller Fragen. Wünschst du dir, der Tod zu sein, bist du nicht mehr. Überlege dir diesen Wunsch gut!“


„Auflösung? Nicht mehr sein? Ich will doch genau das Gegenteil. Leben und glücklich, mächtig und unbesiegbar sein!“ schreit Haiv verzweifelt.
Wieder muss er erkennen, dass er zu weit gegangen ist. Am Ende richten sich nun alle seine eigenen Wünsche gegen ihn!

Angestrengt versucht er, sich zu konzentrieren. Bis aufs Letzte entschlossen will er um sein Leben kämpfen. Noch einmal denkt er nach. Mit seinem Wunsch nach Macht und Stärke kam er immer an ein todbringendes Ende.
„Ich habe noch einen Wunsch frei?“ versichert er sich.
„Ja, einen allerletzten“, antwortet die Stimme.


Zeit! Das ist es! So kann er hoffentlich sein Leben zurück erobern. Mit der Idee, Lebenszeit zu gewinnen, wird er klüger sein als alle anderen – auch als der Tod. Haiv wendet sich an die Stimme:
„Hier ist mein Wunsch: jedes Mal, wenn ich nur noch ein paar Stunden zu leben habe, wünsche ich mir in der letzten Stunde, wieder ein paar Stunden mehr zu leben und so soll es ewig weiter gehen … Ich will die Chance haben, etwas ganz Anderes zu machen, etwas wirklich Neues …“


Da fährt es wie der Blitz in ihn.
Erschrocken springt Haiv auf. Seine Trommel fällt ihm aus der Hand. Es ist Nacht geworden. Tausende Sterne funkeln am Himmel und spitzen immer wieder durch das dichte Blätterdach des alten Baumes. Unter ihm liegt seine löchrige Jacke auf den dicken Wurzeln. Mühsam bewegt er seine Glieder die schmerzen, weil sie vor Kälte steif geworden sind. An seinen Fingern ist das Blut eingetrocknet. Ganz benommen tastet er nach seiner Trommel und steckt sie in den Beutel zurück.


„Ich muss wohl geträumt haben, “ murmelt er gedankenverloren vor sich hin und schüttelt verwundert seinen Kopf. Noch halb im Erleben des Traumes gefangen, geht er in der Dunkelheit nach Hause.



Der weise Baum


Ein kleiner Fuchs, eine junge Ente, ein heranwachsender Frosch und ein gerade aus dem Ei geschlüpfter Grashüpfer trafen sich unter einem Apfelbaum. Alle waren neugierig, beäugten und beschnupperten sich gegenseitig – so wie sich junge Tiere verhalten. Sie überlegten, was sie in ihrem Leben machen wollen und wer von ihnen wohl der Beste, der Stärkste und der Weiseste sein wird.

„Wenn ich mal groß bin, werde ich dich fressen“, sagte der Fuchs zur Ente, die ihm am stärksten unter den Tieren erschien.

„Du wirst mich nicht fangen können, denn ich kann etwas, was du nicht kannst: fliegen!“ antwortete die Ente und schlug bedeutsam mit ihren Flügeln. Dann drehte sie sich zum Frosch: „Aber fressen werde ich auch und zwar dich!“ prophezeite sie  ihm.

„Du wirst mich nicht erwischen, denn ich kann etwas, was du nicht kannst: ganz hoch springen, unter Wasser schwimmen und tief abtauchen!“ quakte der Frosch stolz und machte einen großen Sprung. Dann drehte er sich zum Grashüpfer: „Wenn ich mal groß bin, werde ich dich fressen. Du bist der Kleinste und Schwächste von uns.“

Der Grashüpfer erwiderte: „Täusche dich nicht! Ich kann etwas, was du nicht kannst: sehr weit und sehr hoch in die Luft hüpfen. Du wirst mich nicht einholen. Ich habe sehr lange Beine und Flügel, die mich beim Hochspringen unterstützen!“ Er machte einen hohen Flug-Sprung und die anderen schauten ihm staunend zu.

So unterhielten sich die Tiere eine ganze Weile. Endlich seufzte der kleine Fuchs: 

„Nun haben wir uns ausgetauscht und erfahren, dass jeder von uns auf seine Art stark ist. Vielleicht ist es weise, dies zu wissen. Es wird wohl so sein, dass wir uns alle gegenseitig töten müssen um zu leben. Also ist keiner der Beste und jeder der Stärkste.“

Da kam ein leiser Wind und raschelte in den Blättern des kleinen Apfelbaums. Die Tiere waren ganz erstaunt, als sie plötzlich Worte hörten: 

„Ich muss nicht töten um zu leben“, sprach der Baum. „Ich verwandle das Sonnenlicht durch meine Blätter und mache daraus die Stärke, die mich ernährt. Die Sonne scheint für alle Lebewesen. Und ich nehme nur einen Teil des Lichtspektrums. Den übrigen Teil lasse ich für euch. Damit ihr es schön grün habt, etwas essen könnt und eine wunderbare Natur seht.“

Plopp – ein reifer Apfel fiel ins Gras und rollte ein Stück in die Wiese.

Beeindruckt schwiegen die Tiere. Plötzlich wußten sie wer der Beste, der Stärkste und der Weiseste von ihnen war …